Jahresthema 2021
SEHNSUCHT
Etwas – etwas, das mir entzogen ist oder sich mir ständig entzieht –das Objekt der Sehnsucht. Es kann ein Ding sein oder eine Person, es kann vergangen oder auch zukünftig, bekannt oder unbekannt sein. Ich verlange nach ihm, ich begehre es, ich sehne mich nach ihm. Ein·e andere·r ist mir aber in noch stärkerem Maße entzogen, als ein Gegenstand, den ich nicht besitze. Ihn oder sie, eine andere Person, kennzeichnet eine Unverfügbarkeit mir gegenüber. Doch wird nicht gerade diese Unverfügbarkeit in einer die universale Verfügbarkeit anstrebenden Welt hinfällig; in einer Gesellschaft, der es tendenziell zukommt, dass alle bloß wechselseitig für einander und dabei schließlich für die Kapitalvermehrung Mittel sind? Die Sehnsucht wird damit entweder zu einem Wunsch, nicht bloß zu einem Wunsch nach der oder dem anderen, sondern danach, dass die anderen wirkliche andere seien, uns in ihrer eigenen Individualität sichtbar würden, – oder von der Sehnsucht bleibt das Sehnen als leere Sehnsucht über, eine Sehnsucht, die ihr Objekt aus den Augen verliert. In beiden Fällen produziert die Wirklichkeit selbst eine unerfüllbare Sehnsucht, eine Sehnsucht im Verständnis der Romantik. Doch muss diese Sehnsucht romantisch sein? Deckt sie sich einfach mit Nostalgie und verklärt wie diese ihr Objekt? Oder kann sich diese Sehnsucht von der Nostalgie trennen? Die Sehnsucht scheint wohl nicht grundsätzlich so rückwärtsgewandt zu sein wie die Nostalgie. Sie könnte ihre Kraft zwar auch aus der Vergangenheit schöpfen, müsste sich jedoch nicht in deren Erinnerung erfüllen. Die Begierde, sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden zu geben, liegt als utopisches Potential in der Sehnsucht.
Will man dieses Streben nach einem glücklichen, glücklicheren, ja dem glücklichsten Ort verstehen, so versucht man zu sehen. Doch was will man sehen? Strebt man zunächst vielleicht gar nicht unbedingt an, den utopischen Ort selbst zu erblicken, sondern den Ort, dem diese Utopie entgegengesetzt wird? Dann will man sich nicht bloß, sozusagen, blind in ihm bewegen, ihn vielmehr bewusst wahrnehmen, hinter die Welt seiner Erscheinungen blicken, Erkenntnis über deren Zusammenhalt gewinnen und begreifen, auf welchem Boden sie sich befinden. Worin liegen die Züge, die ihn vom utopischen Zustand trennen? Dabei kann man in eine Sucht des Sehens gelangen, in eine ständige Suche nach dem Erkennen. Verliert dieses besessene Tun nicht sein Ziel, so versucht es auch über die Gegenwart hinaus zu kommen, den Gedanken vom Gegenwärtigen hin zum Zukünftigen zu biegen. Was sind die aktuell unverwirklichten Möglichkeiten des Glücks? Und sagen diese Möglichkeiten nicht etwas über die Utopie aus? Dieses Begehren nach dem Sehen fragt sich, nach den aktuell unverwirklichten Möglichkeiten des Glücks, und zieht damit Verbindungen zur Utopie. Beim Herstellen von Verbindungen der Gegenwart zur ersehnten Zukunft setzt diese Tätigkeit die einzelnen Menschen als Zwecke und fragt sich, was sonst noch als Zweck behandelt werden sollte. Es ist ein Sehen, das sowohl versucht, die momentane Gesellschaft zu erkennen, als auch eine gewünschte, kommende vorwegzunehmen. Im Jahr 2021 widmete sich SILK Fluegge mit seinen Stücken somit einer Sehnsucht die nicht eine im reinen Sehnen verbleibende Sehnsucht ist, sondern eine Seh(e)nsucht als ein Sehnen nach dem (Er)Sehen – dem Erkennen des Ersehnten und des Zustands der Ersehnenden.